Kybernetik - was ist das?Kybernetik

Eine verständliche Einführung

Von Eisenbahnen und der Ringparabel

Als eine der betrüblichsten Tatsachen gilt, dass das Maß unseres Wissens weitaus kleiner ist als die Menge dessen, was wir nicht wissen. Damit müssen sich sogar Genies und Varieté-Gedächtniskünstler abfinden.
Es spricht doch sehr für die Kybernetik, dass sie diesem Tatbestand gewissermaßen augenzwinkernd Rechnung trägt; sie beruht geradezu darauf, dass unser Wissen Stückwerk ist und unser Trachten eitel, wenn wir uns unterfangen, die Dinge zu erfassen, wie sie wirklich sind.
Großzügig erlaubt die Kybernetik, selbst relativ einfache Tatbestände durch noch einfachere Modelle darzustellen. Zumeist sind das auch Modelle, die untereinander nicht die geringste Ähnlichkeit haben, obgleich sie sich doch auf ein und dasselbe Urbild beziehen. Denken Sie nur an die Eisenbahn! Da gibt es zum Beispiel ein Modell, die Spielzeugeisenbahn. Wir sprachen schon über sie. Sie simuliert sehr hübsch den technischen Ablauf: Das Anfahren und Halten, das An- und Abkuppeln, Richtungsänderung mittels Weichen und so weiter. Als zweites hätten wir den Fahrplan. Er simuliert, nur auf dem Papier und in nüchterne Zahlen gefaßt, den zeitlichen Ablauf des Geschehens auf Schienen und Bahnhöfen. Und drittens ist da der Streckenplan, die Landkarte: Sie gilt uns als Modell für die geographische Verzweigung des Eisenbahnnetzes.
Wenn man sich anstrengt, lassen sich für das Phänomen "Eisenbahn" sicher noch ein Dutzend weiterer Modelle finden, die zum selbstverständlichen Gebrauchsgut all jener gehören, die Züge benutzen oder mit ihnen zu tun haben. So alltäglich und banal diese Modelle sein mögen - im Rahmen, der Kybernetik haben sie ihren wissenschaftlich genehmigten Platz.
Die Freiheit, alle Dinge derart souverän von verschiedenen Seiten zu betrachten, war ehedem nur sehr freigeistigen Individuen erlaubt. Herr Lessing zum Beispiel nahm sie sich. In seiner "Ringparabel" bei Nathan dem Weisen verfährt er durchaus kybernetisch. Erinnern Sie sich an Ihre Schulzeit? Die Parabel, die der weise Nathan selbst erzählt, beginnt so:

 Vor grauen Jahren lebt' ein Mann im Osten,
 der einen Ring von unschätzbarem Wert
 aus lieber Hand besaß.

Dieser Ring wird stets vom Vater auf den Lieblingssohn vererbt, und das geht auch lange Zeit gut. Aber eines Tages kommt er auf einen Vater, der alsbald vor einem schweren Problem steht:

 Auf einen Vater endlich von drei Söhnen,
 die alle drei ihm gleich gehorsam waren,
 die alle drei er folglich gleich zu lieben
 sich nicht entbrechen konnte.

Lessing - Ringparabel

Was soll der arme Mann tun? Wem soll er den Ring vererben? Lange, lange überlegt er, bis ihm der Ausweg einfällt:

 Er sendet insgeheim zu einem Künstler,
 bei dem er, nach dem Muster seines Ringes,
 zwei andere bestellt, und weder Kosten
 noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich,
 vollkommen gleich zu machen.

Als er stirbt, vererbt er jedem Sohn einen Ring. Und schnell zeigt sich, dass der brave Vater die Tugenden seiner Söhne erheblich überschätzt hat:

 Kaum war der Vater tot, so kommt ein jeder
 mit seinem Ring, und jeder will der Fürst
 des Hauses sein. Man untersucht, man zankt,
 man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht
 erweislich.

Die drei drohen einander mit Mord, Totschlag und Schlimmerem - vergeblich. Da ziehen sie schließlich vor Gericht. Der Richter aber ist ein weiser Mann. Er urteilt:

 Eure Ringe
 sind alle drei nicht echt. Der echte Ring
 vermutlich ging verloren. Den Verlust
 zu bergen, zu ersetzen ließ der Vater
 die drei für einen machen.

Und er empfiehlt den dreien, es solle doch jeder seinen Ring ganz einfach für den echten halten und sich so gesittet aufführen, dass alle Welt sage, er habe diesen Ring der Vaterliebe wahrhaftig verdient...
Hier bricht die Parabel ab. Ob die Brüder dem Rat des Richters gefolgt sind? Man möchte es bezweifeln. Denn für Lessing waren die drei Ringe nichts anderes als Sinnbilder für die jüdische, die muselmanische und die christliche Religion. Seine Stellungnahme zum Religionsstreit war: Keine der drei Religionen, ist die allein seligmachende! Alle drei sind Nachbildungen der einen, richtigen, die verlorengegangen ist.
Diese Betrachtung ist interessant. Und wenn auch ihr theologischer Wert zweifelhaft ist - ihr kybernetischer liegt auf der Hand. Lessing betätigt sich sogar gleich zweimal als Modellbauer. Zunächst geht er davon aus, dass die drei streitenden Religionen nur Modelle einer eigentlichen Ur-Religion seien, die sie - jeweils unter einem anderen Aspekt - simulieren. Und dann macht er für diese dreifache Modell-Konstruktion drei weitere Modelle: die Ringe nämlich. An diesem zweiten Modellsystem macht er etwas deutlich, was er beim ersten nicht zeigen konnte: den Ersatz des Eigentlichen durch ein Modell. Das zweite Modell sagt also etwas über die Modellwerdung des ersten aus.
Kompliziert? Nun ja - auch Lessings Zeitgenossen nahmen ihm die Ringparabel übel. Aber nicht der Modelle wegen, sondern weil sie ihm nicht glauben wollten, dass es die richtige Religion auf Erden nicht geben solle. Juden, Muselmanen, Christen - irgend jemand musste die "wahre" Religion doch haben, zum Teufel noch eins!
Die Vorstellung, man müsse über die vielen vagen Tatbestände dieser unvollkommenen Welt doch Eindeutiges aussagen können, führte während der ganzen Aufklärungszeit und noch lange darüber hinaus nicht nur die Religion, sondern auch die Wissenschaft auf Holzwege. Selbst heute gibt es noch bejammernswerte Geschöpfe, die wirklich meinen, sie könnten in Religion und Wissenschaft eine absolute Wahrheit im rationalistischen Sinn finden. Klugerweise sind die meisten modernen Wissenschaftler von dieser so recht gründlich deutschen Einstellung inzwischen weit abgerückt.
Nun waren die wissenschaftlichen Erkenntnisse von vor hundert Jahren ja auch durchaus noch von der Art, dass man Wissenschaft für "Suche nach der Wahrheit" halten konnte. Man hatte erkannt, wie die Sehnen einer Hand die Finger beugen und dass Wasserstoff und Sauerstoff, im rechten Verhältnis entzündet, sowohl einen Knall wie auch reines Wasser ergeben. Man glaubte, am Ziel zu sein; dies eben, war die Wahrheit. Dahinter konnte nichts mehr kommen.
Leider kam dann doch noch etwas. Zum allgemeinen Unbehagen zeigte sich, dass die Gase Wasserstoff und Sauerstoff nicht einfach fundamentale Urstoffe aus dem Küchenregal von Mutter Natur sind, sondern dass sie sich aus Molekülen und Atomen zusammensetzen und diese wieder aus elektrisch geladenen Teilchen bestehen, die komplizierten und manchmal höchst sonderbaren Gesetzen gehorchen. Vielleicht ist auch das noch nicht alles. Womöglich steckt noch viel mehr dahinter. Man weiß es nicht. Man weiß nur, dass es über die Veränderung der Atomstruktur sogar eines Tages möglich sein könnte, Wasserstoff in Sauerstoff umzuwandeln - und umgekehrt.
Für die Rationalisten der Aufklärungszeit hätte eine solche Idee als strafwürdiger Rückfall in die mittelalterliche Alchimie gegolten.
Bei den Sehnen der Hand zeigte sich, dass sie nicht ein mechanisch betriebenes Hebelwerk sind, sondern feinen elektrischen Reizen gehorchen, die sich mit einer bestimmten, meßbaren Geschwindigkeit auf Nervenbahnen fortpflanzen und sowohl künstlich erzeugt wie auch zur Bewegung künstlicher Gliedmaßen benutzt werden können.
Ja, die stolzen Wissenschaftler, die der Wahrheit so nahe zu sein wähnten, hatten nur ein Zipfelchen von ihr in ihren Retorten!

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