Kybernetik - was ist das?Kybernetik

Eine verständliche Einführung

Von Matrizen und Zeitungslesern

Bei Matrizen weiß man: Überall dort, wo nur ganze, aufrechte Einsen zu finden sind, geht es determiniert zu. Wo gebrochene, unganze Zahlen ins Spiel kommen, beginnt die Stochastik. Eine Matrix wird immer stochastischer, je mehr ihrer Werte von 1 verschieden sind. Und wenn schließlich überhaupt keine Einsen mehr auftreten, sondern nur noch Nullkommasowiesos oder Prozente, dann handelt es sich um die Matrix einer vollstochastischen Maschine.
"Vollstochastisch" - das klingt nach finsteren Beschwörungen, nach Kabbalismus und Menschenopfern. Es ist aber nur griechisch und bedeutet so viel wie "nicht streng festgelegten Gesetzen folgend" - etwa "zufällig", aber nicht ganz. Es gibt kein deutsches Wort dafür. Leider sind die meisten Systeme, die uns umgeben, von zumindest teilweise stochastischer Art, so dass wir auf die im Deutschen so schlecht definierte Stochastik nicht ganz verzichten können.
In den meisten Fällen - ob wir nun den Ameisenhaufen, den Straßenverkehr, ein Marktsystem oder die Wähler der SPD mit Hilfe der Kybernetik untersuchen wollen - handelt es sich nicht nur um fünf oder sechs Zustände, die es miteinander zu verknüpfen gibt, sondern immer gleich um viele tausende. Das ergibt riesenhafte Matrizen, die niemand bewältigen kann, der sich nicht des Computers bedient.
Wie weit auch der Mensch auf diese Weise untersuch- und berechenbar ist, wollen wir im nächsten Kapitel näher betrachten; dass menschliche Gruppen so erfaßt werden können, hat sich inzwischen als ganz sicher herausgestellt, Scharen von Soziologen und Programmierern arbeiten inzwischen daran, Computer-Programme zu erfinden, die Menschengruppen und ihr Verhalten im Modell darstellen. Da Menschen mit den Ameisen zwar nicht die Arbeitsamkeit gemeinsam haben, wohl aber die Eigenschaft, dass ihr Verhalten in Gruppen gewissen Gesetzmäßigkeiten folgt, verspricht man sich von solchen Sozio-Programmen sehr viel. Man versucht, Menschenhäufungen wie unseren Gesangverein, bestimmte soziale Klassen oder auch politische Parteien im Modell so festzuhalten, dass man ihr Verhalten im Elektronenrechner nachspielen kann. Am Modell lassen sie sich - probeweise - in Situationen bringen, denen man sie sich in Wirklichkeit niemals auszusetzen traute. Und der Computer gibt - hoffentlich - einigermaßen richtig an, welche Reaktion der Gruppe man in gewissen Situationen zu erwarten hat.
Das Ziel ist, beispielsweise, das Kaufverhalten von bestimmten Zeitungslesergruppen am Modell zu testen. (Man tut das schon; auch in Deutschland bestimmen bereits Computer, für welches Erzeugnis am besten in welcher Zeitschrift geworben wird.) Das Ziel ist auch, Strategien für politische Wahlen auszuarbeiten. (Die Parteien, SPD wie CDU, lassen im Computer testen, welche Reaktionen des Wählervolks auf neue Beschlüsse oder Versprechungen zu erwarten sind.)
Natürlich sind die Mathematiker mit der bloßen Matrizenrechnerei noch nicht zufrieden. Sie suchen nach Formeln, die das Verhalten solcher stochastischer Gruppen in großen Systemen exakt beschreiben.
Einer dieser Wissenschaftler ist Nicolas Rashevsky, Ordinarius für Biomathematik an der Universität Chicago. Seine Formeln, die Kraftfahrer mathematisch erfassen sollen, sind lang wie ein Heldengedicht. Sie berücksichtigen durchschnittliche Reaktionszeit und Fahrzeuglänge ebenso wie die Straßenbeschaffenheit und das Wetter.
Ein anderer, Ilya Prigogine aus Belgien, leitet seine Formeln aus den Grundsätzen der Plasmaphysik ab; er wandelte Gesetze des Gasdrucks für den Kraftverkehr ab.
Ehrlich gesagt: Bis heute ist mit diesen Formeln nicht allzuviel anzufangen, immerhin stellen sie ernstzunehmende Bemühungen um die Mathematisierung von Problemen dar, die man bis vor kurzem als ganz und gar unmathematisch betrachtet hat.
Der geschulte Kybernetiker pflegt in solchen Fällen zu einer anderen Methode zu greifen, die man in der Mathematik schon lange kennt; sie wurde von dem Russen Markoff erfunden. Nach seiner Theorie gibt es in einer stochastischen Maschine gewisse berechenbare Wahrscheinlichkeiten, wonach, sagen wir, vom Zustand Z567 in den Zustand Z24 oder vom Zustand Z7863 in den Zustand Z825 ein Übergang stattfinden wird.
Markoff kam auf diese Idee, als er in Gasen die sogenannte Brownsche Molekularbewegung studierte. Solch eine Masse von Gasmolekülen ist ja auch eine total stochastische Maschine - kein Mensch kann sagen, was dieses oder jenes der wie wild durcheinandersausenden Moleküle in der nächsten Zehntelsekunde anstellen wird, wo es sich hinbegibt und wo es mit einem anderen Molekül zusammenstoßen wird. Dennoch folgen diese Moleküle in ihrer Gesamtheit - also als Gas - bestimmten, wohlbekannten und offenbar sehr verläßlichen Gesetzen.
Wenn dies, so sagte sich Markoff, auf Gase zutrifft - warum nicht auch auf anderes?
Gewiß! Sagen heute die Kybernetiker. Warum nicht etwa auf Gesangvereine, politische Parteien oder eine Stadt voller Autofahrer?
Und siehe da: Obwohl jeder Sänger, jedes SPD-Mitglied, jeder Kraftfahrer andere Wünsche, Vorstellungen und Ziele hat, anders denkt und anders handelt, so lassen sich mit Hilfe des etwas verwickelten Markoff-Verfahrens doch gewisse Gesetzmäßigkeiten aufzeigen. Zumindest lassen sich im Computer Modelle danach bilden.
Dass das wirkliche Verhalten der einzelnen Sänger, Wähler oder Autoraser eine Black Box ist (und wohl auch immer bleiben wird), braucht uns ja gar nicht zu stören. Hauptsache: Wir können uns ein Modell machen, das der Wirklichkeit isomorph ist. Ganz abgesehen davon, dass ein solches Modell im Umgang sehr oft angenehmer sein wird als die Wähler, Sänger oder Autofahrer in Person.

Kybernetik - Sänger

↑ Zum Seitenanfang