Von Menschen und Systemen
Können Sie singen?
Lassen Sie nur. Macht ja nichts. Die Gesangvereine sind voll von Leuten, die nicht singen können.
Wir wollen Sie nämlich in einen Gesangverein einführen. Schade nur, dass der Zeitpunkt nicht ganz günstig ist. Denn auch in Gesangvereinen gibt es Dissonanzen.
"Ruhe!" trompetet soeben das Vorstandsmitglied Brüllmann (zweiter Tenor) in den Saal des "Ochsen", in dem die musische Volksseele kocht, "Ruhe!" Unser Erster Vorsitzender hat das Wort!"
Aber was ein rechter Gesangverein ist, der gehorcht nur seinem Dirigenten. Erst als jener milde die Hand hebt, kehrt Stille ein. Nur ganz hinten rechts flüstert noch ein Tisch. Man schließt dort Wetten ab, ob man nun diesmal den Ersten Vorsitzenden endlich absetzen werde, diesen...
Eben dieser Erste Vorsitzende (zweiter Baß) ergreift jetzt das Wort, gewichtig und mit beiden Händen. Er setzt zur Rechtfertigungsrede an:
"Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Sangesbrüder und -Schwestern, werte Mitglieder! Mit Bitterkeit im Herzen ob der Verdächtigungen..."
Weitschweifig und im Tremolo erklärt er, warum er das gebrauchte Klavier habe verkaufen müssen, ohne den Vorstand zu befragen; warum er auf Vereinskosten zu den Singerfestspielen nach Schlitz an der Schlürfe gereist sei; warum er... Schriftführer Federle (erster Tenor) gähnt. Er kennt das Spiel.
Alle Jahre wieder ist der Gesangverein in Schwierigkeiten, zeiht man den ersten Vorsitzenden grober Verstöße gegen die Vereinsstatuten. Alle Jahre wieder vertraut der Erste Vorsitzende auf die Länge seiner Rede sowie die besänftigende Wirkung des Ochsen-Bieres - und wird am Ende des Abends einstimmig wiedergewählt.
Schriftführer Federle zeichnet, aus reiner Langeweile, den Organisationsplan des Gesangvereins auf, wie er, in Schönschrift sauber gemalt, in der Gaststube vom "Ochsen" hängt: