Von der Beinflussung und der Steuerung
Die junge Kybernetik ist gegenüber so ehrwürdigen Wissenschaften wie der Altphilologie, der Historie und der Anatomie empfindlich im Nachteil: Sie hat keine Verwendung für Totes. Ihre Aufgaben liegen dort, wo es lebendig zugeht; es muss etwas passieren.
In einem kybernetischen System sind alle Elemente beinahe unablässig beschäftigt, Veränderungen hervorzurufen und dadurch andere Elemente zu beeinflussen. Ein im Kälteschlaf erstarrter Ameisenhaufen, eine Wüstenlandschaft ohne Klima, eine stillstehende Fabrik - das sind keine Themen für einen Kybernetiker. Wir sagten schon im ersten Kapitel, dass nur dynamische Modelle kybernetisch von Nutzen sind. Das gilt erst recht für die Wirklichkeit, die durch sie simuliert werden soll.
Eben sprachen wir vom "Beeinflussen". Nun, die Fachleute setzen dafür andere Worte. Sie reden von "Steuern". Manche sind spitzfindig und unterscheiden noch zwischen "Steuern" und "Auslösen". Im Grunde meinen sie das gleiche.
Überall, wohin wir nur blicken, sind solche Steuerungsvorgänge am Werk, Menschen steuern Menschen, Menschen steuern Maschinen, Maschinen steuern Maschinen, Maschinen steuern Menschen...
Wie bitte? Sie rufen "Halt!"? Sie sagen, da hätten wir uns nun vergaloppiert, denn so weit sei es ja nun glücklicherweise noch nicht, dass Menschen von Maschinen gesteuert werden - allenfalls im utopischen Schauerfilm?
Langsam, langsam! Wir werden schon noch darauf kommen, dass es das alltäglichste der Welt ist, wenn Menschen durch Maschinen gesteuert werden. Und Sie gehören auch dazu!
Gewiß, der umgekehrte Fall ist einleuchtender. Der Mann, der sein Auto in die Kurve steuert, ist das nächstliegende Beispiel für den Fall "Mensch steuert Maschine". Und aus jeder Werkstatt, jeder Fabrik und jedem Haushalt, in dem nur eine Nähmaschine steht, lassen sich weitere Exempel dieser Gattung anführen.
Ebenso selbstverständlich ist die Abteilung "Mensch steuert Mensch", Die ganze Menschheit läßt sich ja nur durch Bitten und Befehle, Verordnung und Übereinkünfte am Leben erhalten, und das sind alles nichts anderes als Steuerungsvorgänge.
Wie steht es mit der Spielart "Maschine steuert Maschine"? Wir finden sie seit Jahrzehnten in vielen technischen Geräten dargestellt. Wir finden sie zum Beispiel bei der Rolltreppe, die sich in Bewegung setzt, sobald ihr eine andere Maschine - eine elektrische Lichtschranke nämlich, die soeben von Ihnen, lieber Leser, durchschritten wurde - den Befehl dazu gegeben hat. Sie steckt im Zeitschalter, der, nachdem sein Uhrwerk abgelaufen ist, die elektrische Höhensonne abschaltet. Und sie ist mehrfach in jedem Radio- oder Fernsehgerät verborgen: Das Verstärken elektrischer Schwingungen von einer Röhre zur anderen oder von Transistor zu Transistor ist ja auch nichts anderes als ein Steuerungsvorgang, mit dem immer eine Maschine (sprich: ein Schwingkreis mit Verstärkerelement) auf die nächste wirkt.
Aber "Maschine steuert Mensch" - gibt es das denn schon? Doch hoffentlich nicht! Denn diese Schreck einflößende Steuerungsmöglichkeit ist ja die ganz große Gefahr, vor der fast alle Neuhumanisten einhellig warnen, weil sie darin deutlich den Beginn der Maschinenherrschaft erkennen.
Es ist uns fast peinlich, erklären zu müssen: Die Warnung kommt zu spät. Seit Jahrhunderten schon werden wir von Maschinen gesteuert, und die Neuhumanisten haben recht: es ist ein Kreuz damit. Schon Klopstock fluchte, wenn ihn frühmorgens die Kirchturmuhr aus den Federn riß. Sie schimpfen, wenn die seelenlose Lichtsignalanlage Sie bei Rot vor der Kreuzung festhält. Sie toben, wenn Ihr Auto streikt und Sie zwingt, zu Fuß zu gehen. Ihre Frau seufzt, wenn der pfeifende Teekessel sie vom vertraulichen Gespräch mit der Nachbarin in die Küche scheucht.
Und während wir dies auf der Schreibmaschine tippen, erklingt alle sechzig Anschläge die Glocke und zwingt uns, eine Zeile weiterzuschalten.
Maschinen steuern Menschen? Aber ganz gewiß! Dass diesem Vorgang manches Entwürdigende innewohnt, ändert daran nichts. Auch kann man darüber streiten, ob der Fall "Mensch steuert Mensch" ("Hinlegen! Aufstehen! Hinlegen!") grundsätzlich mehr Rücksicht auf die Menschenwürde nimmt.
Mehr noch: Man ist heute bereits so weit, dass man in kritischen Situationen, bei denen es auch um Menschenleben geht, die Steuerung häufig den präziseren und zuverlässigeren Maschinen anvertraut. Das gilt teilweise in der Medizin: Bei Maschinen, die als Ersatz für Organe eingesetzt werden, bei künstlichen Nieren und Lungen. Und das gilt fast durchweg in der Astronautik, wo man in kritischen Phasen in aller Regel den Computer beauftragt, das lebensgefährliche Experiment einer bemannten Erdumkreisung zum guten Ende zu führen.
Nun kennt man Systeme, in denen einzelne Elemente bewußt und mit voller Absicht von anderen gesteuert werden, schon lange - nämlich seitdem es Chefs und Untergebene gibt. Wir würden sagen: bei den Menschen seit der Steinzeit, bei den Tieren noch länger. Die Menschen hatten es schnell heraus, dass ein Häuptling desto mehr zu sagen hat, je lauter er es sagt. Aber obwohl man schon sehr früh begriffen hatte, wie wichtig solch lautstarkes Befehlsgebrüll ist- so dauerte es doch viele tausend Jahre (nämlich bis in unsere Zeit), ehe man sich darüber klar wurde, wie wesentlich die Rolle dieser Befehle bei der wissenschaftlichen Betrachtung eines gesteuerten Systems ist.
Feinerweise spricht man heute nicht mehr von "Befehl", sondern man redet von "Information". Damit bezeichnet man die Kommandos oder Bitten oder Mitteilungen von Mensch zu Mensch genauso wie das Signal, das die Maschine dem Menschen gibt, oder den Stromstoß, mit dem der Mensch die Maschine einschaltet.