Von Modelleisenbahnen und einer Wanzenmotte
Hoffentlich haben wir Sie im ersten Kapitel nicht verwirrt. Das könnte gut der Fall sein, wenn Sie sich unter "Modellen" bisher immer etwas anderes vorgestellt hatten als Herrn Federles Zeichnung. Vielleicht haben Sie immer nur an Modelleisenbahnen und Modellflugzeuge gedacht? Oder an Fotomodelle im "Playboy"?
Es würde zu Ihren Gunsten sprechen, zeigt es doch, dass Sie ein unverhärtetes Gemüt haben und sich den Schönheiten dieser Welt aufgeschlossen zeigen.
Aber unter dem "Modell" versteht man noch viel mehr. Schlagen Sie sich für ein paar Minuten den "Playboy" aus dem Kopf und denken Sie an den Architekten, der ein Modell des Hauses entwirft, das er bauen soll! Oder an den Stadtplaner, der das Modell einer großen Straßenkreuzung mit siebzehn Unter- und Überführungen anfertigt, damit sich die phantasielosen Gemeinderäte eine Vorstellung machen können.
Allen diesen Modellen - von der Miniaturlokomotive über das fein bemalte Mädchen vor der Kamera bis zur Straßenkreuzung im Maßstab 1: 200 - ist eins gemeinsam: Sie haben äußerliche Ähnlichkeit mit den realen Dingen, die sie darzustellen haben. Die Modelleisenbahn ist auf den ersten Blick als Eisenbahn erkennbar.
Aber das muss nicht sein. Viele Modelle sind weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick mit der Wirklichkeit zu identifizieren. Man muss sie dazu genau studieren oder aber aus Erfahrung die Zusammenhänge kennen. Auch mit solchen Modellen gehen wir täglich um. Denken Sie nur an den sauber in Kästchen geschriebenen Stundenplan der Schulkinder! Hat er die geringste Ähnlichkeit mit einem Klassenzimmer oder mit Lehrern oder mit Schulbüchern? Und doch ist er das exakte Modell des wöchentlichen Schulunterrichts!
Nun sind wir schon wieder einen Schritt weiter. Offenbar gibt es gebaute Modelle (Modelleisenbahnen, Architekturmodelle, Blut-Emil) und Papiermodelle - also gezeichnete Modelle (der Stundenplan; Herrn Federles Skizze von den internen Vorgängen im Gesangverein; ein elektrisches Schaltbild), in der Kybernetik hat man es vorwiegend mit Papiermodellen zu tun. Das ist sehr bedauerlich, weil Papiermodelle nicht so unterhaltsam sind. Aber die Kybernetiker sind eben schneller mit Kugelschreiber und Papier bei der Hand als mit der Laubsäge und dem Alleskleber.
Man muss noch eine weitere Unterscheidung treffen: zwischen statischen und dynamischen Modellen. Nach dem klugen Lexikon handelt "Statik" von nichtbewegten Körpern; "Dynamik" aber ist die Lehre von Bewegungsänderungen. Vereinfacht könnte man also sagen, dass ein statisches Modell ruhig ist, während sich in einem dynamischen etwas bewegt. Das Segelschiffchen, das sich, in eine alte Rumflasche gezwängt, auf Opas Anrichte langweilt, wäre demnach ein statisches Modell. Stimmt. Eine Spieleisenbahn, die durchs Zimmer rasselt, wäre ein dynamisches Modell. Auch das stimmt.
Aber so einfach ist die Unterscheidung nur bei den gebauten und gebastelten Modellen. Bei Papiermodellen liegt der Fall komplizierter, weil sie sich selbst immer nur dann bewegen, wenn der Wind sie vom Tisch weht. Ob sie statisch oder dynamisch sind, kommt ganz darauf an, was sie darstellen sollen. Der Stadtplan zum Beispiel (zweifellos das Modell einer Stadt) ist ein ganz und gar statisches Modell. Denn er zeigt nur den in sich ruhenden Grundriß der Stadt her, und sobald sich dort etwas verändert - durch eine Straßenverlegung oder gar durch ein Erdbeben -, stimmt das Modell nicht mehr.
Das Eisenbahnkursbuch hingegen (ein Modell des täglichen Zugverkehrs) ist ein dynamisches Modell. Es gibt ja wieder, welche Züge wann wo fahren, wie der Personenzug auf den Schnellzug wartet und dieser auf den Transeuropa-Expreß. Auch die Modelle von Herrn Federle und Herrn Holzbock sind dynamischer Natur. Herrn Holzbocks Zeichnung, weil sie nicht bloß angibt, wo welche Maschine stehen soll (dann wäre es nur ein statisches Modell), sondern weil sie auch die Reihenfolge des Arbeitsablaufs festhält. Und bei Herrn Federle handelt es sich sogar um ein Modell, das Beeinflussungen zeigt - ja, dem man darüber hinaus entnehmen kann, was dem Ersten Vorsitzenden geschieht, wenn Frau Schreier oder aber Frau Lämmlein längere Zeit mit Grippe im Bett liegen und die betreffende Einflußbahn blockieren.
In der Kybernetik, soviel ist sicher, haben wir es fast ausschließlich mit dynamischen Modellen zu tun. In der Kybernetik passiert etwas.
Das hat nur einen Nachteil: Dynamische Papiermodelle sind in der Regel schwerer zu verstehen als statische, weil sie mit dem Bildhaften allein nicht auskommen und zum Bezeichnen der Bewegungsabläufe und Einflußnahmen auf Symbole und abstrakte Chiffren angewiesen sind. Das in die Landkarte gezeichnete Eisenbahnnetz ist einfach zu begreifen; das Kursbuch schon weniger.
Im Gegensatz dazu waren unsere Altvorderen große Meister darin, dynamische Modelle von erstaunlicher Plastik und Anschaulichkeit zu schaffen. Allerdings wollten sie mit papierenen Darstellungen nichts zu schaffen haben; sie vertrauten noch ihrer Vorstellungskraft. So schufen sie sich für Blitz und Donner ein Modell namens Donar und später für das Schlimme dieser Welt ein Modell namens Teufel. Ganz nebenbei hasteten sie in einer überaus genialen Stunde ein handgreifliches Modell für das unfaßbare Abstraktum "Zeit"; sie nannten es "Uhr". Für viele Vorgänge in der Natur legten sie ein ganzes Archiv der merkwürdigsten Modelle an - Trolle und Hexen, Elfen und Dämonen. Unsere Märchen sind voll davon. Und von Sigmund Freud stammt die zweifellos geistvolle Bemerkung, wonach der Himmel das Modell sei, das der Mensch sich von einer vollkommenen Erde mache.
Strenggenommen gehört auch das Fotomodell im "Playboy" in diese Abteilung.
Warum? Fragen Sie Ihren Psychiater!