Kybernetik - was ist das?Kybernetik

Eine verständliche Einführung

Von der Atmung und der Black Box

Wir sagten schon, dass in diesen Modellen ganz zwangsläufig schlichte, unbewiesene Annahmen auftauchen müssen, und zwar je mehr, desto weniger zugänglich das Forschungsobjekt ist. Dürfen wir das an einigen Beispielen deutlich machen?
Sehen Sie, hier haben wir ein Modell vom Wasserkreislauf in der Natur:

Wasserkreislauf in der Natur

Die Sonne läßt Wasser verdunsten, der Dampf ballt sich zu Wolken, gibt Wärme ab, kondensiert wieder zu Wasser und fällt als Regen in den See. Diesen Vorgang kennen wir in allen Einzelheiten. Er ließe sich durch zahlreiche weitere Modelle erweitern. Wir könnten ein Modell über meteorologische Vorgänge in der Atmosphäre einfügen; ein anderes über den Verdunstungsprozeß selbst, der gar nicht so einfach ist; ein drittes über den Kondensierungsvorgang, bei dem gasförmiges Wasser plötzlich wieder Flüssigkeit wird.
Baut man auch diese Detailmodelle ein, so käme etwa folgendes Gesamtmodell zustande, das wir hier aber nur andeuten und nicht in allen Einzelheiten ausführen wollen:

Kybernetik - Wasserkreislauf

Bei diesem Kreislaufmodell müssen wir schon sehr, sehr tief schürfen, bis wir auf Vorgänge stoßen, die wir nicht bis ins letzte genau kennen. Ganz anders ist es beim Kohlendioxyd-Kreislauf in der Natur.
Das Modell dafür könnte so aussehen:

Kybernetik - Kohlendioxyd-Kreislauf

Den Vorgang kennen Sie sicher. Menschen (und auch andere Lebewesen) brauchen Sauerstoff zum Atmen. Was sie im Tausch dafür aus ihren Lungen entlassen, ist das für uns schädliche Kohlendioxyd. Wenn es nun keine grünen Pflanzen auf der Welt gäbe, wäre die Menschheit schon längst ausgestorben. Denn die Pflanzen sind so brav, dieses Kohlendioxyd aufzunehmen und daraus unter der Mitwirkung von Wasser und Sonnenlicht in ihren grünen Blättern zwei vorzügliche Produkte herzustellen: Traubenzucker und reinen Sauerstoff.
Unser Modell ließe sich erweitern. Zum einen könnte man den Wasserkreislauf von vorhin anschließen. Dann könnte man ins Spiel bringen, was der Mensch mit dem Sauerstoff eigentlich anstellt, wie er ihn ans Blut abgibt, wie das Blut ihn an den Ort der Verbrennungsvorgänge im Körper transportiert, wie es die verbrannten Gase - nämlich das Kohlendioxyd - aufnimmt und wieder den Lungen zuführt. Da kennen wir uns ganz genau aus; wir wissen haarscharf, was passiert.
Nur bei der Pflanze wissen wir es nicht. Wie sie es fertigbringt, aus Kohlendioxyd und Wasser unter der Einwirkung von Licht Traubenzucker und Sauerstoff zu fabrizieren, ist auch den klügsten Wissenschaftlern noch ein schieres Rätsel. Wir können genau angeben, wieviel Gramm Traubenzucker und wieviel Kubikzentimeter Sauerstoff von einem Quadratmeter Kartoffelblätter in einer Stunde Sonnenschein produziert werden - mehr aber auch nicht. Trotzdem scheuen wir uns nicht, die Pflanze in unser Modell einzuzeichnen, selbst wenn wir, was die Vorgänge im Detail betrifft, noch so im Dunkeln tappen wie in einer schwarzen Kiste.
Die Kybernetik ficht das nicht an. Gut, sagt sie, dann weiß man's eben nicht. Und der Vergleich mit der schwarzen Kiste ist auch hübsch, nennen wir solch einen rätselhaften Modellteil doch einfach "Black Box", "Schwarzer Kasten"!
Die "Black Box" ist ein Grundbestandteil kybernetischer Systeme. Ohne sie käme man nicht aus, Sie wird - wie der Joker beim Rommé - überall dort eingesetzt, wo man nicht wirklich weiß, was das Ding, das man da im Modell abbildet, im inneren zusammenhält. Nur eines muss man natürlich wissen: Was, rein äußerlich, passiert. Das wissen wir bei den Pflanzen ganz genau. Man führt ihnen Wasser, Licht und Kohlendioxyd zu. Dann kommen Traubenzucker und Sauerstoff heraus. Man weiß auch, was sich ereignet, wenn man ihr das Wasser entzieht, sie in den Schatten stellt oder ihr die Zufuhr von Kohlendioxyd sperrt: Sie schränkt die Produktion von Traubenzucker und Sauerstoff ein oder stoppt sie ganz oder wird, im schlimmsten Falle, selbst zerstört.
Mehr braucht der Kybernetiker nicht zu wissen; damit gibt er sich zufrieden. Er will den "Input" (Licht, Wasser, Kohlendioxyd) und den "Output" (Traubenzucker, Sauerstoff) kennen - und sein Problem ist nur, ein Modell zu finden, das in seinem Verhalten der Black Box entspricht.

Kybernetik

Wissenschaftlich ausgedrückt: Die Black Box ist der bewußte Verzicht auf die strukturellen Eigen-Eigenschaften eines Systems. Nur noch sein Verhalten interessiert, also der funktionelle Aspekt.
Erst die Black Box, dieser wissenschaftliche Blankoscheck, gibt den Forschern die Möglichkeit, von komplizierten Tatbeständen vernünftige Modelle zu machen, ohne dass gleich einer kommt und fragt:
"Na, ja, ganz schön - aber wie geht denn das jetzt wirklich?" Der Kybernetiker kann lächelnd die Achseln zucken und sagen; "Keine Ahnung! Bei dem und dem Input haben wir den und den Output, und das genügt für mein Modell!"
Die Erkenntnisse der modernen Chemie, Physik, Biologie und Astronomie sind mit Black Boxen durchsetzt wie ein Stadtplan mit Straßenbahnhaltestellen. Unsere ganzen Vorstellungen von der Gestalt und Funktion der Atome, dem Strahlencharakter des Lichts, dem Entstehen chemischer Verbindungen, der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns, dem Einfluß der Hormone... lauter Black Boxen. Man weiß, welche Funktionen unter gewissen Bedingungen zu erwarten sind. Das ist alles.
Übrigens hat die Wissenschaft die Black Box ja nur zu akademischem Rang gebracht. Erfunden hat sie sie nicht. Unser alltägliches Leben spielt sich zwischen lauter schwarzen Schachteln ab. Oder wissen Sie vielleicht, wie ihr Fernseher das macht, dass er ein Bild auf die Mattscheibe bringt? Na also. Ihnen genügt, dass Sie über Input (Anschalten) und Output (Peter Frankenfeld oder Peter von Zahn) Bescheid wissen. Was für Sie der Fernsehapparat ist, kann für Ihren kleinen Sohn schon das Türschloß sein. Er weiß, dass er die Klinke drücken muss (Input), damit die Tür aufgeht (Output). Was dabei aber im Schloß vor sich geht, interessiert ihn gar nicht. Für Sie ist solch ein Türschloß natürlich keine Black Box. Aber wie ist es mit dem elektrischen Türschloß, das Sie täglich, benutzen - wissen Sie da auch Bescheid?
Die Medizin (die Ärzte mögen uns verzeihen!) kann seit Hippokrates einen guten Teil ihrer Erfolge darauf zurückführen, dass sie ihre Patienten als Black Boxen betrachtet, ohne jedesmal im einzelnen nachzuforschen, was sich in Darm, Milz oder Leber tat, wenn der Kranke die Verordneten Tabletten schluckt. Hauptsache, er wird gesund.
Und die Religion... nun, damit schließt sich der Kreis und wir kehren zurück zu Lessings Parabel.
Luther, der postuliert hat, dass allein der Glaube selig mache, formulierte schlicht: "Und Glauben heißt nicht Wissen".
Auf gut kybernetisch: eine Black Box.

Kybernetik - Black Box

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