Von Materie und Energie, Ordnung und Organisation
Der um die Jahrhundertwende einsetzende Umdenkprozeß in der gesamten Wissenschaft muss ungeheuer gewesen sein. Wir, die wir heutzutage ganz selbstverständlich alles relativiert sehen und dem Anspruch des Absoluten die größte Skepsis entgegenbringen - wir können das gar nicht mehr nachempfinden.
Das Bestreben der Wissenschaft im vorigen Jahrhundert war es, möglichst naturgetreu die Wirklichkeit festzuhalten, zu beschreiben, darzustellen. Jedes Wort im Lehrbuch musste erweislich wahr und bewiesen sein, Theorien oder gar Hypothesen waren gar nicht gern gesehen. Nur das eindeutig Feststehende galt.
Das war ja auch ganz schön und gut, solange man die Sehnen der Hand und den Knall des Wasserstoff-Sauerstoff-Gemischs beschrieb. Aber als man von Atomen und von Reizleitungen und von vielen anderen neumodischen Dingen etwas zu ahnen begann, da war es mit der erweislich richtigen Darstellung eben aus. Ein Atom läßt sich nicht malen. Kein Mensch hat je eines gesehen noch wird er es können. Kein Mikroskop, und sei es noch so fein, kann ein Atom abbilden - einfach deshalb, weil es selbst aus Atomen besteht. "Die Auflösung reicht nicht aus", sagt der Fachmann. "Zu viel Korn" würden die Fotografen sagen. Hier stehen wir also weitgehend hilflos an der Grenze der Erkenntnis. Wir können das Verhalten der Atome studieren, statistisch, in der Menge also. Mehr ist nicht möglich.
Auch die Reizleitung in den Nervenbahnen läßt sich, nicht in allen Einzelheiten aufzeigen; wir wissen einfach nicht genügend darüber. Das Universum...
Nun, das Universum steckt voller Dinge, Abläufe und Reaktionen, mit denen wir uns täglich auseinandersetzen, von denen wir aber in Wirklichkeit so gut wie nichts wissen und vielleicht auch in tausend Jahren noch nichts wissen werden. Dass wir dies heute eingestehen und zum bescheidenen "Ich weiß, dass ich nichts weiß" der antiken Philosophen zurückkehren, bringt uns der Wahrheit zweifellos näher als die Anmaßung der so ungemein selbstsicheren Wissenschaftler des vergangenen Jahrhunderts, die schon meinten, sie hätten die Welt in der Tasche.
Verehrte Leser, dies war eine Abschweifung, aber eine wichtige. Denn in - Verzeihung! - Laienkreisen sieht man den Wissenschaftler sehr häufig immer noch in der geistigen Umgebung des 19. Jahrhunderts; man weiß oft gar nicht, wie sehr sich Forschungsziele und Forschungsmethoden geändert haben.
Der Wissenschaftler - vor allem der junge Wissenschaftler - von heute nimmt es gelassen hin, dass sein Eindringen in jedwedes Untersuchungsobjekt von vornherein Stückwerk bleiben wird. Je tiefer man in Organismen oder die Materie oder den Weltraum oder eine soziologische Struktur (und sei es nur ein Gesangverein) vorstößt, desto spärlicher wird der Zustrom an Fakten, an hieb- und stichfesten, gußeisernen, beweisbaren Ergebnissen.
Besonders schlimm ist, dass durch zu feine Untersuchungen oft das Objekt selbst zerstört wird. Eine organische Zelle, in mikroskopisch feine Scheibchen zerlegt, ist eben keine Zelle mehr. Untersucht man nur die Scheibchen, so kann man zu völlig falschen Ergebnissen kommen.
Sie möchten das so unbesehen nicht glauben? Nun gut - wir wollen ein Beispiel nehmen, das zwar den Nachteil hat, unwahrscheinlich zu sein, aber daneben den Vorteil hat, einzuleuchten.
Ein Soziologe Himmelein, der selbst gerne singt, möchte eine Dissertation über das Phänomen "Gesangverein" schreiben. Um zu besonders feinen Ergebnissen zu kommen, scheut er weder Mühe noch Kosten. Er lädt die wesentlichen handelnden Personen - Schreiner Holzbock und den Dirigenten, Herrn Schreier, Herrn Brüllmann und zwei Dutzend anderer Leute - Stück für Stück und nacheinander für jeweils eine Woche zu sich nach Hause ein, um sie einzeln genau zu studieren. Und das Ergebnis? Soziologe Himmelein wird nie eine vernünftige Doktorarbeit fertigbringen. Denn die einzelnen Sängerinnen und Sänger, ob Vorstandsmitglieder oder Fußvolk, entpuppen sich, isoliert, als nette Menschen oder als widerliche, als Briefmarkensammler, Säufer, religiös Wahnsinnige oder Schnarcher. Aber als Strukturelemente des Gesangvereins vermögen sie Himmelein nichts zu bieten - auch nicht, wenn sie Tratsch erzählen. Nur innerhalb des unzerstörten Systems "Gesangverein" geben sie über die Struktur dieses Gesangvereins Aufschluß.
Auch das ist eine Erkenntnis der modernen Wissenschaft, dass neben den Grundprinzipien "Materie" und "Energie" auch das Prinzip "Ordnung", "Organisation" oder "System" überaus wichtig ist. Zerstört man durch eine allzu genaue Untersuchung diese Ordnung, so wird dadurch die Untersuchung selbst ebenso unmöglich gemacht, wie wenn man die Materie zerstört hätte.
Die Wissenschaftler müssen also versuchen, aus vereinzelten Tatbeständen, die sie mühsam auskundschaften, ein einigermaßen brauchbares Gesamtbild zusammenzusetzen. Früher sagte man dazu: "Er stellt eine Theorie auf" und rümpfte die Nase. Heute sagt man dazu: "Er macht ein Modell" und wartet gespannt, ob etwas dabei herauskommt.
Der Wiener Meeresbiologe Dr. Wolfgang Wieser erklärt sogar: "Ich möchte die Behauptung aufstellen, dass sich in dieser modellhaften Darstellung der Wirklichkeit das wahre Ziel wissenschaftlichen Tuns verbirgt. Die reine Beschreibung, das reine Registrieren führt (nur) zu Listen und Katalogen. Es geht darum, möglichst viele Erfahrungselemente zu immer inhaltsreicheren, immer komplizierteren und gleichzeitig in sich widerspruchsfreien Modellen von der Wirklichkeit zusammenzuschweißen."
Das ist nun eine ganz andere Wissenschaft als die unserer Großväter. Zwar wird auch noch heute der emsig suchende, leidenschaftlich den Fakten nachjagende Forscher verlangt - dazu aber auch der Mann von Phantasie. Denn zum Entwurf eines Modells gehört Einfallsreichtum, Kombinationsgabe - gehört eine ganz andere, schöpferischere Art von Wissenschaft. Ein spielerisches Element zieht in die Labors ein. Gleichzeitig kommt diese Auffassung von Wissenschaft dem Individualismus der Wissenschaftler entgegen. Das Modell einer Atomreaktion oder einer großangelegten Wahlbeeinflussung in Nordrhein-Westfalen kann - ganz nach Art, Laune und Können des Wissenschaftlers - knapp und stenogrammartig oder barock-ausschweifend sein. Es kann nüchterne oder kühne Züge tragen. Hauptsache: Es paßt.