Strukturuntersuchung
Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit zur analogen Übertragung von Techniken Methoden und Aussagen auf Systemprobleme für kybernetisches Vorgehen typisch ist, dass darin aber auch eine nicht unerhebliche Gefahr steckt, wissenschaftliche Fehler zu begehen oder gar wissenschaftliebes Vorgehen, das ja stets auch die Liebe zum Detail voraussetzt, durch Spekulation zu ersetzen. Wir wollen dem Leser durchaus nicht verheimlichen, dass die Kybernetik noch keineswegs zu den abgeklärten Wissenschaften wie etwa die Mathematik oder Physik gehört. Hier wird oft "Meinung" vom wissenschaftlich nachgewiesenen und erarbeiteten Sachverhalt nicht genügend getrennt - was natürlich auch darauf zurückzuführen ist, dass sich viele spektakuläre Ergebnisse dieser Wissenschaft sehr leicht in der Boulevardpresse kolportieren lassen.
In diese Richtung stößt auch eine Publikation (M. Taube, "Der Mythos der Denkmaschinen - kritische Betrachtungen zur Kybernetik", rowohlts deutsche enzyklopädie, Nummer 245, Januar 1966), die sehr pointiert auf einige solcher Probleme hinweist. Vornehmlich Probleme aus dem Bereich der maschinellen Sprachübersetznng, der lernfähigen Maschinen und des Verhältnisses Mensch und Maschine erscheinen dem Autor (übrigens nicht nur ihm!) in vielen Aussagen als nicht abgesichert, wenn nicht gar als suspekt. Es wäre eine zwar undankbare, aber sicherlich sehr verdienstvolle Aufgabe, einmal eine Untersuchung über Irrlehren und Irrmeinungen, über nicht abgesicherte Thesen und nur spekulativ oder aus ungesicherter Analogie hergeleitete Aussagen zusammenzustellen. Eine solche Arbeit, die sicherlich einen erheblichen Umfang annehmen würde, könnte der Kybernetik manches Terrain wieder erobern, das sie in den letzten Jahren durch wachsendes und teilweise berechtigtes Mißtrauen verloren hat. Hätte man dabei auch den Mut, diese Wissenschaft von denjenigen Dingen zu reinigen, die durch die euphorischen Betrachtungen der Gründerjahre in die Kybernetik hereingekommen sind (auch dann, wenn sie durch Zitate von Altvätern dieser jungen Wissenschaft abgesichert scheinen), so könnte die Kybernetik noch, mehr gewinnen. Der Leser mag jetzt über das Ausmaß unseres Engagements erstaunt sein. Aber wenn er - vielleicht auf Grund der Lektüre dieser Publikation - je weiter in diese Materie vordringen sollte, so wird er bald mit Erstaunen feststellen, dass er in eine Art von Zirkus geraten ist, neben dem das Verrückteste, was er bei uns liest, noch wie ein Diskussionsabend des Müttergenesungswerkes anmutet. Wir sind keine Moralisten der Kybernetik - letztlich sind wir überhaupt keine Kybernetiker, weil wir auf diesem Gebiet nicht oder doch nur sehr peripher forschen - aber den Hinweis waren wir ihnen doch schuldig.
Dazu gehört sicherlich auch eine Aussage über die Stellung von Norbert Wiener, dessen Brillanz und Genie jeden begeistert, der mit seiner Arbeit in Berührung kommt oder der ihn gar selbst erlebt hat. (Den Autoren dieses Buches widerfuhr letzteres während ihrer Studienjahre aus Anlaß eines Vortrages in Stuttgart.) Wiener ist einer der geistreichsten und wirkungsvollsten Wegbereiter der Kybernetik, aber er ist - auch wenn es oft behauptet wird - eindeutig nicht ihr Erfinder. Er hat die Wissenschaft in seinem bahnbrechenden Werk "Cybernetics - or control and communication in the animal machine", das auch ins Deutsche übersetzt ist, amtlich getauft. Aber dieses Werk ist heute mehr historisch als sachlich interessant, und wer sich Wieners Autobiographie "Mathematik - mein Leben" zu Gemüt führt, der weiß, warum. Sein Beitrag zur Kulturphilosophie "The human use of human beings" (deutsch: "Mensch und Menschmaschine") ist eher ein Mißverständnis soziologischer Tatsachen und auch sonst nicht gerade ein Leitfaden der Kybernetik, so dass wir fast geneigt sind, dem Leser die Lektüre dieses Buches nicht zu empfehlen. (Über die Bedeutung dieses Buches in Wieners Leben gibt seine Autobiographie ebenfalls genügend Hinweise.)
Wir wollen mit diesen Zeilen Wieners Verdienst um die Kybernetik nicht schmälern. Da die Kybernetik - und dies galt erst recht für Wieners Zeit! - noch, keine eigene Wissenschaft mit abgesicherten Objekten wissenschaftlicher Betätigung ist, riskiert jeder, der darüber publiziert (auch wir gehören dazu), dass er über etwas spricht, wovon er nicht genügend versteht. Bei einem so umfassenden Denkbereich wie dem der Kybernetik ist dies nachgerade das Prinzip. Wo Wiener in seinen eigentlichen Bereichen - Mathematik, Physik und Elektrotechnik - bleibt, gilt er immer noch als brillantes und fruchtbares Genie.
Doch seine Aussage, dass er die Kybernetik erfunden habe ("Wir haben beschlossen, das ganze Gebiet der Regelung und Nachrichtentheorie, ob in der Maschine oder im Tier, mit dem Namen Kybernetik zu benennen, den wir aus dem griechischen Wort für Steuermann bildeten" - "Kybernetik", Vorwort zur ersten Auflage, deutsche Ausgabe Seite 39), diese Aussage ist ungerecht gegenüber den Wissenschaftlern, die vor Wiener, zu Wieners Zeit und mit Wiener dieser Disziplin das Gesicht gegeben haben.